Ich lade dich zu einem Experiment ein:
Dort wo du gerade bist, finde ein Symbol, das für deine Eltern stehen soll und stelle es in einer für dich stimmigen Entfernung zu dir auf. Und jetzt sage – laut oder leise – zu deinen Eltern:
„Ihr vor mir und ich nach euch. Ihr seid die Großen und ich der/die Kleine. Und auch wenn ich heute schon groß und erwachsen bin, werde ich euch gegenüber immer der/die Kleine bleiben.“
Geht das bei dir ganz ohne Widerstände, egal ob sie klein oder groß sind? Wenn nicht, dann könntest du ein Thema mit falscher Größe haben.
Systemische Ordnung und falsche Größe
Ich mache gerade eine Ausbildung in integral-systemischer Aufstellungsarbeit. In einer „Aufstellung des ausgeblendeten Themas“ ist mir (bzw. meinem Repräsentanten) dabei mein Vater begegnet. Tatsächlich taucht als „Thema hinter dem Thema“ häufig eine Verstrickung mit unseren Ahnen, also unseren Eltern, Großeltern, etc. auf. In der Auflösung dieser Verstrickungen geht es darum, dass die Liebe wieder fließen kann – also die Beteiligten wieder mit Wohlwollen und Wertschätzung aufeinander schauen können oder sich ihr Verhältnis zumindest verbessert bzw. klarer wird. Ein wesentlicher Schritt dabei ist das Wiederherstellen der „systemischen Ordnung“. Und dazu gehört, dass unsere Eltern die Großen und wir die Kleinen sind, egal wie alt wir sind. Unsere Eltern sind vor uns geboren und haben uns das Leben geschenkt – es ist wichtig das anzuerkennen.
In den letzten Jahren habe ich mich häufig über meine Eltern gestellt – ihnen zum Beispiel innerlich vorgeworfen, dass sie sich nicht ausreichend entwickelt haben, sich in ihrem Leben nicht wirklich selbst verwirklicht haben. Heute ist das nicht mehr so stark, dennoch wurde mir dieses Thema in der Aufstellung sehr deutlich gespiegelt – mehrfach mussten mein Repräsentant und später auch ich diese „falsche Größe“ und den Zweifel an der Größe meiner Eltern zurückgeben.
Falsche Größe und Echte Größe
Es gibt unterschiedliche Gründe dafür, dass wir in unserem Leben „falsche Größe“ entwickeln. Einer davon ist, dass wir nicht anerkennen, dass andere uns gegenüber „die Größeren“ sind – sei es weil sie vor uns geboren sind, in einem bestimmten Bereich schon mehr Kompetenz und Lebenserfahrung haben als wir oder schon lange vor uns Teil der Gruppe waren, in der wir selbst noch recht frisch dabei sind. Unsere „falsche Größe“ speist sich dann vor allem daraus, dass wir uns bewusst oder unbewusst größer oder besser machen als die andere Person, unsere Größe also aus einem Vergleich mit und der Bewertung von anderen Menschen ziehen. Ganz konkret können wir das bei Menschen in unserer Umgebung und bei uns selbst beobachten: z.B. als Besserwisserei/Wichtigtuerei, in (manchmal sehr subtiler) Abwertung, in unangebundenem, störendem Verhalten oder auch darin, dass die eigenen Wertmaßstäbe als die einzig richtigen und gültigen angesehen werden.
Wir nennen diese falsche Größe auch „Größengroß“, ein Begriff der auf Hans-Jürgen Maaz zurückgeht (siehe Anmerkungen).
Wo erlebst du andere Menschen in falscher Größe? Und wo erkennst du sie bei dir selbst?
Echte Größe – Größenselbst
Echte Größe wächst aus uns selbst heraus. Du erkennst sie bei Menschen, die in sich ruhen, die keine Bestätigung von außen dafür benötigen, dass sie gut oder kompetent sind und die eine natürliche Integrität ausstrahlen. Echte Größe geht mit Verantwortungsübernahme einher – für dich selbst in erster Linie und auch für diejenigen, die dir gegenüber „Die Kleinen“ sind. Sie entsteht, wenn du ganz auf deinem Platz ankommst, ihn anerkennst und von dort aus handelst. Oft bewundern wir Menschen, die in ihrer echten Größe sind. Sie sprechen etwas in uns an, nach dem wir uns selbst zutiefst sehnen. Wir nennen diese echte Größe auch „Größenselbst“.
Wo erlebst du andere Menschen in ihrem Größenselbst? Und wie sieht dein eigenes Größenselbst aus?
Der Bogen zurück zur Aufstellungsarbeit: Wenn wir in unserer echten Größe sind, haben wir kein Problem damit anzuerkennen, dass wir manchen Menschen gegenüber „die Kleinen“, anderen gegenüber „die Großen“ und wieder anderen gegenüber auf einer Ebene sind – und dass dies je nach Kontext auch wechseln kann. Wir können die systemische Ordnung anerkennen, annehmen und unseren Platz darin ganz einnehmen. Und nur an diesem Platz können wir zu unserer wahren und eigenen Kraft finden.
Empfehlungen und Anmerkungen
Buchtipp: Hans-Joachim-Maaz (2012): Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm. Link zum Buch.
Zu einigen Begriffen in diesem Artikel: Die Begriffe „Größengroß“ und „Größenselbst“ stammen aus unserem Teilpersönlichkeitskompass, der von Jayan Maertens entwickelt wurde und eine wichtige Basis für unsere Arbeit mit inneren Anteilen und deren Entwicklung ist.