Mich auf eine Zahl reduzieren lassen? Pah!
So ging es mir zuerst, als wir vor einem guten Jahr begannen, uns mit der Typologie „Enneagramm“ zu beschäftigen. Neun Typen, neun Zahlen. So fand ich mich zunächst nirgendwo wieder, während sich andere – teils begeistert, teils schockiert – selbst erkannten. Heute hilft uns das Wissen dabei, uns einander tiefer und präziser in unserer Unterschiedlichkeit zu verstehen, die Welt aus den Augen der anderen sehen zu können und uns gegenseitig in unsere Kraft zu bringen.
Die neun Typen teilen sich in drei Obertypen auf: Handlungs-, Beziehungs- und Sachtypen (Hand, Herz und Kopf). Als Handlungstyp fackelst du nicht lang, du machst einfach, wovon sich Beziehungstypen oft überrumpelt fühlen und Sachtypen sich nur verständnislos die Hand vors Gesicht schlagen. Als Beziehungstyp bist du sehr gefühlsbetont und spürig, und deine Kontakte zu den Menschen sind dir sehr wichtig. Handlungstypen finden dich manchmal etwas übersensibel und Sachtypen diffus. Und als Sachtyp grübelst du über alles nach (das gefällt dir auch besser als zu fühlen oder zu machen), denken und verstehen geben dir Sicherheit. Beziehungstypen haben bei dir schnell Sorge, dumm zu sein, und Handlungstypen geht dein Hin- und Herüberlegen, bevor du endlich loslegst, auf den Sack.
Auch wenn das alles natürlich viel komplexer ist, als ich es hier überspitzt darstelle (ich habe ein halbes Jahr gebraucht, bis ich mich endlich als Sachtyp erkannte): Als Gemeinschaft hat die tiefe Auseinandersetzung mit dem Enneagramm unglaublich viel Entspannung in unsere Beziehungen und unsere Gruppe gebracht. Ich erinnere mich noch ans erste Einkaufen für unser Transformations-Wochenende. Marina (Handlungstyp, 8) und ich (Sachtyp, 6) waren spürbar genervt voneinander. Sie war mir viel zu unüberlegt und gehetzt. Und ich für sie vermutlich das genaue Gegenteil – zu verkopft und träge. Und dann ist uns auch noch der Einkaufswagen umgekippt und hinterließ Scherben und Blutspuren aus passierten Tomaten. Heute können wir darüber lachen und uns in unseren Eigenarten und den damit einhergehenden Qualitäten erkennen und annehmen.
Oft werten wir „Andersartiges“ zunächst ab und wundern uns, wer denn jetzt „falsch“ ist: ich oder der andere? Es mag banal klingen, aber durch die Typologie ist viel tiefer in mir gesunken, dass wir einfach alle unterschiedlich sind und das auch vollkommen ok ist – bzw. mehr noch, das richtig schön ist! Ich bin mehr im Frieden mit mir und auch den anderen gekommen. Ich erkenne, dass wir alle unsere Eigenarten und ganz unterschiedliche Herausforderungen haben. Für den einen ist es herausfordernd, ins Machen zu kommen, für den anderen, überhaupt mal tiefer zu fühlen, und für den nächsten, einen Überblick in die Diffusitäten des Lebens zu bekommen. Für den einen ist es das Schwerste überhaupt, sich festzulegen und sich zu comitten und damit zu all den Millionen anderen Möglichkeiten der Welt „nein“ zu sagen (Typ 7), für den anderen, sich aus der eigen-gemachten Festung zu trauen und sich zu zeigen (Typ 5+6), und für den nächsten auch mal zu nehmen und nicht nur zu geben (Typ 2). Und so können wir alle voneinander lernen, uns inspirieren, uns begleiten, in unsere Kraft zu kommen und uns von unseren Glaubenssätzen und falschen Identifikationen zu lösen und zu befreien.
So lerne ich gerade, mich mehr aus meiner 6er Höhle zu trauen. Feigheit ist die Identifikation meines Typs. Ich sehe zwar vieles, was im Außen „nicht gut“ läuft, bleibe aber als Beobachterin lieber im unsichtbaren Schatten. Zu gefährlich wirkt es auf mich, aus meiner sicheren Zone zu treten. Ich fühle mich verletzlich und nackt, nur mit meinem Verstand als Schutz bestückt (anders als die 8, auf welche die Welt zwar auch gefährlich wirkt, die aber ausgestattet mit sicherer Ritterrüstung siegessicher in die Welt zieht). Die Gemeinschaft bietet mir einen Raum, wo ich lerne, Schritt für Schritt aus meiner Höhle raus ins Leben zu treten und meine Kritikpunkte an uns nicht nur in mich hineinzufressen, zu verbergen oder passiv-aggressiv rauszulassen, sondern zu sagen, was ich sehe und für das zu gehen, was mir wichtig ist. Erst jetzt sickert immer tiefer in mir, dass ich neben Geschöpf auch Schöpferin bin. Dass ich mitgestalten kann. Dass weder die Welt noch die Gemeinschaft perfekt sind und es an mir liegt, meine Herzensthemen hineinzutragen. Wenn ich mich raus aus meiner Höhle hinein in die Welt und ins Leben traue.
Das Enneagramm birgt hohes Potenzial für menschliche Entwicklung mit sich, mit anderen und in Gruppen. Es hilft mir, menschliche Unterschiedlichkeiten präzise zu verstehen und mich durch ehrliche (und auch erst schmerzhafte) Selbstreflexion auf tieferer Ebene zu erkennen und meiner Selbst bewusster zu sein. Mit dem Kennenlernen der neun Arten, in die Welt zu schauen, erkenne ich immer mehr die Gaben von mir und von anderen und werde immer toleranter und offener für Andersartigkeiten – ja sogar neugierig und freudig. Oder wie es Pamela Michaelis (Enneagramm-Coach) in ihrem Video sagt: „Menschliche Unterschiedlichkeit wird zur Quelle für gemeinsames Lernen, Verstehen, Entwickeln.“
Wenn du neugierig geworden bist und Lust bekommen hast, dich mit dem Enneagramm auf eine Selbsterkenntnis-Reise zu begeben, habe ich dir unten ein paar Quellen zusammengetragen, die für mich sehr hilfreich waren.
Weiterführende Quellen
- Buch: „Neun Porträts der Seele: Die spirituelle Dimension des Enneagramms.“ Von Sandra Maitri und Christin Bolam
- Videoreihe von „Coin In A Lake“: Das Enneagramm
- Video von Pamela Michaelis: Natürliche Kompetenzen der 3 Intelligenzen (Kopf, Herz und Bauch)
