Entwicklung von Bewusstsein – Teil 1
Bewusstsein entwickelt sich. Dein Selbst entwickelt sich. Oder möchte das zumindest, wenn du das zulässt und die passenden Rahmenbedingungen dafür schaffst. Und es entwickelt sich hin zu erweiterten Perspektiven auf dich und die Welt und hin zu der Fähigkeit, mit höherer Komplexität umzugehen. Diese Entwicklung kann in aufeinander aufbauenden Stufen bzw. Ebenen beschrieben werden. Spätere Ebenen sind umfassender als die davor. Wir Menschen sind dabei unterschiedlich weit entwickelt, tummeln uns also auf unterschiedlichen Ebenen, die jeweils eine ganz eigene Weltsicht ermöglichen.
Dieser Artikel beruht auf einer mittlerweile schon jahrzehntelangen Forschung im Bereich der Entwicklung von Bewusstsein, Ich und Selbst. Wichtige aktuelle Vertreter*innen dieser Forschung sind Susanne Cook-Greuter, Terri O’Fallon und Ken Wilber. Wenn du dich in das Thema vertiefen möchtest, findest du geeignete Quellen unter dem Artikel.
Manche Perspektiven sind angemessener und umfassender, als andere.
„Moment“, fragst du jetzt vielleicht, „ist nicht jeder Mensch gut so, wie er oder sie ist? Ist es nicht diskriminierend, über unterschiedlich weit entwickeltes Bewusstsein zu sprechen?“
Die erste der beiden Fragen beantworte ich ganz klar mit „Ja“. Jeder Mensch ist gleich an Wert, unabhängig vom Grad seiner Entwicklung oder anderen Markern. Dennoch ist es wichtig zu sehen, dass Perspektiven, die Menschen einnehmen, unterschiedlich weit reichen.
Lass uns das an einer praktischen Frage erörtern: Wenn es z.B. um die Frage geht, ob zugunsten des Tier- & Umweltschutzes auf den Konsum von Fleisch ganz oder teilweise verzichtet werden soll, könnte dir eine der folgenden Reaktionen begegnen:
Gruppe 1: „Also Verzicht kommt für mich schonmal nicht in Frage. Ich habe schon immer Fleisch gegessen und möchte das auch weiterhin tun. Niemand schreibt mir vor, was ich zu essen habe und was nicht.“
[…]
Gruppe 2: „Ich sehe, dass es nicht leicht ist, den eigenen Konsum in Frage zu stellen und das Verhalten zu ändern, gerade wenn es etwas so persönliches, wie die Ernährung betrifft. Ich selbst mag auch den Geschmack von Fleisch und bin damit aufgewachsen und kann verstehen, dass es Menschen schwer fällt, darauf zu verzichten. Es ist aber auch wichtig, die Auswirkungen unseres Konsumverhaltens nicht nur auf uns, sondern auf alle anderen Menschen, die Umwelt und die Tiere zu sehen. Fast jede Form von Fleischproduktion sorgt für Tier-Leid. Das muss ich sehen und dann schauen, was davon ich vertreten kann. Außerdem wird weltweit unglaublich viel Land für die Ernährung von Tieren genutzt und die Umwelt leidet darunter. Langfristig kann uns das unsere Lebensgrundlage rauben.
Es gibt vielleicht auch vertretbare Formen von Fleischkonsum […]“
Frage an dich: Sind beide Gruppen von Menschen gleich an Wert? Und wie schätzt du die Perspektiven ein, die sie einnehmen? Sind sie gleich umfassend, gleich tief?
Auch hier würde ich wieder die erste Frage sehr deutlich mit „Ja“ beantworten.
Du wirst mir jedoch sicherlich zustimmen, dass die Perspektive der zweiten Gruppe von einer deutlich tieferen Überlegung, weitreichenderer Perspektive und komplexeren Ethik zeugt. Sie nimmt nicht nur auf eigene Vorlieben Bezug, sondern kann sowohl Verständnis für die Perspektive der ersten Gruppe zeigen, als auch Umwelt, Tierwohl und längerfristige Auswirkungen des Konsumverhaltens einbeziehen.
Weiterreichende Perspektiven sind in der Regel angemessener – gerade für den Umgang mit komplexen Herausforderungen, wie wir sie heute vielfach in der Welt vorfinden. Die Fähigkeit, umfassendere Perspektiven einnehmen zu können, hängt mit der Entwicklung des Bewusstseins zusammen.
Welche Perspektiven gibt es?
Bist du soweit bei mir geblieben? Gut – dann lass uns das mit den Perspektiven noch ein bisschen genauer anschauen. In der Forschung zur Entwicklung des Bewusstseins werden unterschiedliche Perspektiven beschrieben, die mit fortschreitender Bewusstseinsentwicklung und dem Erreichen weiterer Bewusstseinsebenen eingenommen werden können. Du wirst dich dabei ein bisschen an den Grammatik-Unterricht erinnert fühlen – nur dass die Perspektiven nicht bei der 3. Person aufhören ;-). Der Überblick hier basiert auf der Forschung von Susanne Cook-Greuter und Terri O’Fallon – gut zusammengefasst durch Rolf Lutterbeck im Video bei den Quellen2.
Hier ein knapper Überblick:
- Perspektive – 1. Person: „Jeder sieht, was ich sehe.“ – Es herrscht eine egozentrische Weltsicht vor (Ich-Perspektive). Auf dieser Ebene kann noch nicht differenziert werden, dass andere Menschen etwas anderes sehen, als ich. Diese Perspektive können wir in Reinform bei Kleinkindern beobachten, aber nicht nur. Das Zeitbewusstsein ist nur in der Gegenwart.
- Perspektive – 2. Person: „Ich kann dich/die anderen sehen.“ – Es herrscht eine soziozentrische Weltsicht vor. Man kann sich aus den Augen eines anderen sehen, also die „Du-Perspektive“ einnehmen. Empathie ist möglich – aber auf die eigene (regionale) Gruppe beschränkt. Rassismus kommt oft aus der zweiten Perspektive heraus. Das Zeitbewusstsein erinnert die Vergangenheit, leitet die Zukunft aber aus der Vergangenheit ab.
- Perspektive – 3. Person: „Ich kann abstrahieren und (mich selbst) reflektieren.“ – Es herrscht eine weltzentrische Weltsicht vor, die alle Menschen einbeziehen kann. Eine Metaperspektive kann eingenommen werden – man kann sich selbst und andere beobachten und analysieren und daraus das eigene Handeln weiterentwickeln. Das Zeitbewusstsein reicht nun bis zu 5 Jahre in die Zukunft.
- Perspektive – 4. Person: „Ich kann sehen, von welchem Standpunkt aus ich mich reflektiere.“ – Es herrscht eine ökozentrische Weltsicht vor, die alle fühlenden Wesen einbeziehen kann. Kontextbewusstsein tritt hervor und Art & Kontext des eigenen Beobachtens können reflektiert und angepasst werden, was zur Dekonstruktion von Wahrheiten und Relativierung verschiedener möglicher Standpunkte führen kann. Das Zeitbewusstsein reicht von 10 Jahren bis hin zur eigenen Lebensspanne.
Die 5. und 6. Perspektive führe ich hier nicht aus, da sie in unserer Welt derzeit noch kaum eine Rolle spielen. Bei Interesse an Vertiefung empfehle ich das Video von Rolf Lutterbeck (siehe unten)2.
Achtung, wichtig: Jede weitere Perspektive baut auf der vorherigen auf und schließt sie ein. Das heißt: Wenn ich in der dritten Perspektive denken und fühlen kann, kann ich – wenn ich sie nicht verdrängt habe – auch in der ersten oder zweiten Perspektive fühlen und denken. Andersherum ist es einem Menschen auf der ersten oder zweiten Perspektive jeweils nicht möglich, sich in das Denken der dritten oder vierten Perspektive hineinzuversetzen. Wenn ich aber zum Beispiel die dritte Perspektive ausreichend entwickelt habe, kann ich mich langsam für die Entwicklung der nächsten Perspektive öffnen. Es kann keine Perspektive – keine Ebene der Bewusstseinsentwicklung – übersprungen werden.
Was du daraus lernen kannst
Es gibt Studien und Schätzungen dazu, wie viele Menschen in der Gesellschaft dazu in der Lage sind, welche Perspektive einzunehmen:1
- Weniger als ca. 25% der Menschen sind zur 4. Perspektive in der Lage, und dabei oft noch am Anfang, diese zu entwickeln.
- Ca. 40% der Menschen können die 3. Perspektive einnehmen.
- Ca. 30% der Menschen können die 2. Perspektive einnehmen.
Also: Ein Großteil der Menschen (inklusive derjenigen, die in der Politik arbeiten und unser Land führen), sind nicht dazu in der Lage, weitreichende Perspektiven einzunehmen, die das gesamte Ökosystem der Welt einbeziehen und einen langjährigen Zeitrahmen (> 5 Jahre) umfassen!
Daher ist es so wichtig, über die Entwicklung von Bewusstsein zu sprechen. Daher ist es so wichtig, über unterschiedliche Ebenen & Stufen von Bewusstsein und die Perspektiven, die damit eingenommen werden können, zu sprechen. Mit den aktuell in der Gesellschaft vorherrschenden Perspektiven und Bewusstseinsebenen können wir die Probleme unserer Zeit nicht lösen. Daher ist es so wichtig zu überlegen, wie die Entwicklung von Bewusstsein gefördert werden kann und dann Schritte dorthin zu gehen.
Aber Achtung Falle: Eine weitreichendere Perspektive einnehmen zu können bedeutet nicht, über anderen Menschen zu stehen. Leider ist das nicht so selbstverständlich, wie es den Anschein hat. So werden dir durchaus militante Veganer begegnen, die von ihrer „moralisch überlegenen Position“ auf die „Fleischfresser“ hinabschauen. Und auch wenn sie vielleicht „weiter“ sind in ihrer Sicht auf Tierwohl, Auswirkungen ihres Verhaltens auf die Umwelt, etc. – so sind sie anscheinend noch nicht in der Lage, ihre eigene Position beziehen zu können und sich dabei gleichzeitig empathisch in ihr Gegenüber hineinversetzen zu können, auch wenn dieses gerne Fleisch ist.
Du kannst dich selbst in der Einnahme von Perspektiven üben und damit anfangen, indem du dich mit Bewusstsein und seiner Entwicklung auseinandersetzt. Und du kannst dich darin üben, in Gesprächen & Diskussionen, in inneren Dialogen, im Fernsehen, auf Wahlplakaten, überall dort, wo Menschen kommunizieren einzuschätzen, aus welcher Perspektive heraus kommuniziert wird – und auch, welche Perspektive du selbst schon gut einnehmen kannst.
Quellen, Empfehlungen & Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Weinreich 2024, S. 256 und https://www.integralesforum.org/medien/integrale-bibliothek/theorie-grundlagen/2809-spiral-dynamics. Die Schätzungen, wie viele Menschen in welcher Entwicklungsstufe sind weichen teils voneinander ab und könnten – laut Weinreich – auch zu hoch gegriffen sein. Dennoch geben sie einen ungefähren Einblick in die Verteilung der Bewusstseinsstufen innerhalb der Bevölkerung.
2 Rolf Lutterbeck in einem ausführlicheren Video zu den Perspektiven: https://www.youtube.com/watch?v=c5yREXorLxE&list=PLZESpQ8Xv64w1tPrt7pyidCL5bIo2CmQF&index=5
3 Ein detaillierter Fachartikel zur Entwicklung des Selbst von Susanne Cook-Greuter: https://assets.vbt.io/public/files/11625/Stufen-der-Selbst-Entwicklung-Cook-Greuter.pdf
4 Weinreich, W. M. & Plötz, T. (2024). Erweiterte Integrale Psychotherapie. Band 1: Eine illustrierte Integrale Theorie nach Ken Wilber einschließlich der Entwicklung des individuellen Bewusstseins. (0,5. Auflage, teillektoriert). Abrufbar hier: http://integrale-psychotherapie.de/Resources/Weinreich_Integrale_Psychotherapie_Band1a.pdf